Corona und die Demokratie

„Das sind DDR-Verhältnisse“, schimpft einer am Telefon, ein anderer meint gar „es ist wie 33“. Die Einschränkungen von Grundrechten in der Corona-Krise suchen ihresgleichen. Aber wer so redet, scheint nicht den Hauch einer Ahnung zu haben, dass Grundrechte während der Nazidiktatur abgeschafft oder im SED-Regime über Jahrzehnte Demonstrations- und Versammlungsfreiheit massiv eingeschränkt waren und was das Eintreten für Grundrechte in einer Diktatur für Konsequenzen haben konnte. Die Möglichkeit, Grundrechte einzuklagen, gab es jedenfalls nicht.

von Ralf-Uwe Beck

Nichts hat mich angesichts der gravierenden Einschränkungen der Grundrechte in den vergangenen Monaten an die DDR erinnert, außer dass Klopapier Mangelware war und wir es mitgehen haben lassen, wo sich die Möglichkeit bot. Den zitierten Anrufern, die sich gemeldet haben, nachdem Mehr Demokratie sich zur Corona-Krise geäußert hatte, habe ich erwidert: Bitte bleiben Sie auf dem Teppich, auch wenn er ihrer Ansicht nach ein paar Löcher hat. Gegen die Demonstrationsverbote wurde geklagt, das Bundesverfassungsgericht hat die pauschalen Einschränkungen moniert. Ein Pfarrer hat sich per Eilantrag Zugang zu einem Heim verschafft, um eine Sterbende zu begleiten. Das sind nur zwei von vielen Beispielen, die zeigen: Der Rechtsstaat hat in der Krise funktioniert. Es gibt keinen Grund, die Demokratie in Sack und Asche zu sehen. Dennoch gilt es, den demokratischen Rahmen für das Krisenmanagement der Bundesregierung und der Regierungen in den Ländern abzustecken. Das hat Mehr Demokratie mit seinem Zwölf-Punkte-Papier versucht. Es ist die Einladung, die Lage differenziert zu betrachten, Ängste ernst zu nehmen und die Aufmerksamkeit auf mögliche Gefährdungen der Demokratie zu lenken. 

Eine Regierung, die Grundrechte auf dem Verordnungsweg einschränkt, bewegt sich verfassungsrechtlich auf dünnem Eis. Die Wesentlichkeitstheorie, vertreten vom Bundesverfassungsgericht, definiert Grundrechts-Einschränkungen als Sache des Parlamentes. Das macht nicht nur das rechtliche Eis dicker, es hat auch etwas mit Bürgernähe zu tun: Ein Parlament hat öffentlich zu agieren, die Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition hilft, alle Argumente, die hinter einer Abwägung stehen, in die Diskussion zu holen, Abgeordnete sind (meistens) erreichbar und können Rede und Antwort stehen. Das heißt nun nicht gleich, die Verordnungen für nichtig zu erklären, weist aber dem Parlament eine stärkere Rolle zu. Mindestens sollte der Bundestag Verordnungen zurückholen können. Eine wirksamere Kontrolle der Bundesregierung durch das Parlament wäre kaum denkbar. Demokratisch rund wird dies allerdings erst, indem die Bürgerinnen und Bürger beispielsweise über das Infektionsschutzgesetz und die Festlegungen für Krisensituationen mitbestimmen können. Wieder wird augenfällig, wie überfällig die Einführung des bundesweiten Volksentscheids ist.

Ständig ist zu prüfen, ob die Maßnahmen – Einschränkungen wie Lockerungen – verhältnismäßig sind und eingelöst wird, was man sich und uns damit verspricht. Eine Regierung, die auf Sicht fährt, will dabei von den Bürgerinnen und Bürgern gesehen werden. Aus der Holschuld der Bürgerinnen und Bürger muss eine Bringschuld der Regierung werden: Strategiepapiere, Gutachten, Modellrechnungen müssen automatisch veröffentlicht werden. Dazu gehört auch, transparent zu machen, wie die eingesetzten Krisenstäbe besetzt sind. Die Pandemie verlangt nach interdisziplinärer Beratung, nach Einschätzungen aus der Sozialwissenschaft, der Ethik, der Ökonomie, Rechts- und Politikwissenschaft. Dabei sollte das Spektrum der Meinungen, die hinter den schwierigen Abwägungen stehen, die die Politik zu leisten hat, wahrnehmbar sein. Es geht aber nicht nur darum, politische Entscheidungen besser nachvollziehbar zu machen, sondern die Kompetenz der Betroffenen an den Beratungstisch zu holen. Mehr Demokratie schlägt einen Krisenbeirat vor, repräsentativ von Bürgerinnen und Bürgern besetzt. Es verwundert, dass Bürgerbeteiligung immer erst eingefordert werden muss. Da poltert es aus dem Kanzleramt gegen die Diskussionen in der Bevölkerung und gegen die Gerichte, die pauschale Einschränkungen aufheben, anstatt auf die naheliegende Idee zu kommen, einen solchen Beirat zu installieren. Man mag sich vorstellen, wie ein Sprecher dieses Beirates neben der Kanzlerin vor die Medien tritt und mithilft, zu vermitteln, warum Entscheidungen notwendig sind. Das könnte deren Akzeptanz und das Vertrauen in die Politik erheblich steigern.

Die Krise verhilft zu pragmatischen Lösungen: Video- oder Telefonkonferenzen ersetzen Treffen, Fördermittel werden ohne Umstände gewährt, plötzlich wird Arbeitnehmerinnen und -nehmern vertraut und sie dürfen zu Hause arbeiten. So gut dieser burschikose Pragmatismus tut, um Gewohnheiten in Frage zu stellen, so wenig taugt er für die Demokratie. Da wird unter den Fraktionen im Bundestag diskutiert, die Wahl 2021 als reine Briefwahl zu veranstalten. Hier entscheidet sich jetzt, ob wir politische Kultur abbauen oder Demokratie entwickeln. Allen Wahlberechtigten die Briefwahlunterlagen – wie in der Schweiz – automatisch mit der Wahlbenachrichtigung zuzustellen, das fordert auch Mehr Demokratie. Aber nicht als Ersatz, sondern als Ausweitung der Möglichkeiten, sich an der Wahl zu beteiligen. Die Wahllokale sollten geöffnet bleiben. Ja, probieren wir das aus – und behalten wir dies dann bei für alle Wahlen, auch für die nach Corona. Dann würde die Demokratie nicht beschnitten, sondern vermutlich wäre ein Mittel gefunden, die Wahlbeteiligung zu steigern.

Der durch das Corona-Virus verursachte Ausnahmezustand verlangt nach einer gründlichen Auswertung. Dafür fordert Mehr Demokratie eine Kommission beim Bundestag, hälftig von Abgeordneten und Expertinnen und Experten aus der Zivilgesellschaft besetzt. Der Leitgedanke würde sich nicht auf einen Vorwurf stützen, sondern an der Frage orientieren, welche Rückschlüsse für zukünftiges Krisenmanagement zu ziehen wären – oder ganz einfach: was wir zu lernen haben. Auch das geht nicht ohne die Bevölkerung. Corona wird uns noch eine Weile beschäftigen und eine Auswertung könnte vielleicht erst im nächsten Jahr sinnvoll sein. Aber allein, sich dies so vorzunehmen, wäre ein Signal der Bundesregierung an die Bürgerinnen und Bürger, sie nicht nur als Risikoträger für Ansteckungen zu betrachten, sondern als mündige Menschen, veranlagt und bereit, sich solidarisch zu zeigen.

 

Die 12 Forderungen:

  1. Die Parlamente sind legitimiert, zu entscheiden. Das muss so bleiben!
  2. Verordnungen und Gesetze befristen
  3. Parlamentarische Diskussion öffentlich führen
  4. Beratungsgremien breit besetzen
  5. Bürger einbinden
  6. Transparenz sichern
  7. Entscheidungen und deren Grundlagen müssen nachvollziehbar sein
  8. Versammlungs- und Demonstrationsrecht erhalten
  9. Wahlen nicht einschränken 
  10. Datenschutz beachten
  11. Weltweit solidarisch sein
  12. Den Umgang mit der Krise evaluieren

 

Unsere zwölf Forderungen zum Download

 

Der Autor Ralf-Uwe Beck ist Bundesvorstandssprecher von Mehr Demokratie.