von Stefan Padberg
Wie schnell sich doch der Wind dreht! Noch Anfang des Jahres gab es eine lebhafte Debatte darüber, wie die „Konferenz über die Zukunft der EU“ organisiert werden soll. Am 9. Mai hätte sie beginnen sollen. Das EU-Parlament hatte einen sehr weitgehenden und bürgerfreundlichen Vorschlag gemacht, die EU-Kommission hatte ihm nicht widersprochen. Der Ball lag beim Europäischen Rat. Und dann kam Corona.
Die Rückkehr der Nationalstaaten in der Coronakrise
Plötzlich waren physische Treffen unmöglich, denn die Regierungen sahen sich gezwungen, umfangreiche Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen zu erlassen, um dem sich ausbreitenden Virus Einhalt zu gebieten. Das Virus testet jetzt unsere demokratische Ordnung: Wie viel Ausnahmezustand verkraften unsere Demokratien? Und: Es bescherte den Nationalstaaten ein schon lange entbehrtes Gefühl von Macht. Plötzlich waren sie nicht mehr die Bauern in einem von internationalen Konzernen, Abkommen und Institutionen geplanten Schachspiel, sondern sie konnten eigenständig Maßnahmen erlassen, die zudem alles auf den Kopf stellten, was wir in 30 Jahren Globalisierung, Liberalisierung und Deregulierung für normal zu halten gewohnt waren.
Und sie gewannen durch ihr entschlossenes Auftreten die Herzen ihrer Bürgerinnen und Bürger zurück. Wann gab es in den letzten Jahrzehnten jemals solche Szenen? Applaus für Ordnungskräfte, Ärzte und Pflegekräfte, spontane Appelle an die Solidarität und den Bürgersinn, von unten organisierte Hilfsaktionen für in Not geratene Mitbürger:innen – es war, als ob die räumlich-physische Distanzierung sich in ein neues Gemeinschaftsgefühl sublimiert hätte.
Ein anderes Bild von Europa in der Krise war möglich
Der amerikanische Publizist George Friedman hatte es vorhergesagt: In einer ernsthaften Krise werden sich die Bürgerinnen und Bürger von der EU ab- und den Nationalstaaten zuwenden. Das ist die bittere Wahrheit für alle europäisch fühlenden Menschen.
Es hätte auch anders kommen können. Man hätte die Krise von Anfang an auch als europäische Krise empfinden können. Es wäre dann nicht eine „italienische“, „spanische“, „französische“ oder „österreichische“ Krise gewesen, sondern es hätte sich um Notlagen in Regionen wie Norditalien, Madrid, Elsass-Lothringen und Ischgl gehandelt. Man hätte nicht die Grenzen der Mitgliedsländer schließen müssen, sondern die Hotspots unter Quarantäne stellen können. Man hätte grenzübergreifend Fragen können, wer Hilfe braucht und wer Hilfe anzubieten hat und so ein Europa der Solidarität und des Mitgefühls entstehen lassen können.
Ein neuer Anlauf für die EU-Reformdebatte
Nach der Krise wird der Schwung, der vor der Krise spürbar war, nur wiederkommen können, wenn sich alle EU-Institutionen einschließlich des Rats der Regierungen mit voller Kraft einsetzen für die „Konferenz über die Zukunft der EU“. Ist dies eine realistische Hoffnung oder Wunschdenken? Bald werden wir es wissen. Bald werden sich die Ausgangsbeschränkungen in Europa wieder lockern und die Planungen für die Zukunftskonferenz können weitergehen.
Priorität auf der Agenda. Das verheißt nichts Gutes für die Zukunftskonferenz. Entweder wird sie weiter verschoben werden, oder sie wird in so kastrierter Form aufgeführt werden, wie wir es seit Jahren schon von den sog. Bürgerdialogen der EU-Kommission gewohnt sind: Versammlungen mit handverlesenem Publikum, das artig Wünsche an die Kommission richten darf, und wo die Frage, ob, wann und wie sie umgesetzt werden, ganz in den Händen der EU-Institutionen verbleibt und am Ende des Tages im Rat versackt. Möge es hoffentlich anders kommen und uns hoffentlich eine positive Enttäuschung beschert werden!
CITIZENS TAKE OVER EUROPE!
In dieser Situation hat sich ein Bündnis aus europäischen zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen gefunden und sich entschlossen, weiter an der Idee einer Bürgerkonferenz für eine bessere Zukunft der EU zu arbeiten. Die Alliance4Europe, Another Europe is possible, Citizens Initiative, CIVICO Europa, Democracy International, Eumans!, European Alternatives, European Democracy Lab, European Civic Forum, Mehr Demokratie, NewEuropeans, The Good Lobby, das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement und WeMove haben einen ersten Meilenstein geschafft: einen Online-Aktionstag am 9. Mai 2020, den Europatag, dem 70. Jahrestag der Schuman-Erklärung. Ein Tag der Debatte über die EU und wie es weitergehen könnte. 900 Teilnehmerinnen und Teilnehmer nutzten die Gelegenheit, um sich in dieser Krisenzeit auszutauschen und das Thema Europa wieder anzufachen. Auf Facebook wurde das Event von über 45.000 Nutzerinnen und Nutzern beachtet!
Der Autor Stefan Padberg ist Koordinator des AK "Europa und Welt" bei Mehr Demokratie.