"Gedanken zur Demokratie": Soziale Innovationen & Politik

Im neuen Beitrag aus der vierteljährlichen Reihe "Gedanken zur Demokratie" vertieft der Landesvorstand von Mehr Demokratie Sachsen die Frage nach dem Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.

Im neuen Beitrag aus der vierteljährlichen Reihe "Gedanken zur Demokratie" vertieft der Landesvorstand von Mehr Demokratie Sachsen die Frage nach dem Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Dieses Mal geht es darum, wie das Zusammenspiel demokratischer Instrumente dazu beitragen kann, soziale Innovationen zu diskutieren und fördern.

Wie kann Wandel stattfinden und gleichzeitig Polarisierung verringert werden? Wie verhindern wir das Auseinanderdriften unserer Gesellschaft, bei materiellen, sozialen und kulturellen Fragen?

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ZUSAMMENHALTEN

Beitrag des Landesvorstands, erstes Quartal 2023

 

SOZIALE INNOVATIONEN - WENN IDEEN POLITIK WERDEN

Visionen können die Welt verändern. Sie finden und zeigen Wege zu mehr Chancengerechtigkeit auf. Sie definieren Wachstum neu. Sie zeigen auf und ermöglichen es, einen Wohlstand ohne Umweltzerstörung zu erreichen – all diese Themen prägen die Debatten unserer Zeit.

Utopien werden oft als Tagträumerei abgetan: Sie scheinen so fernab der heutigen Wirklichkeit, dass sie sogar jenseits der Vorstellungskraft liegen. Dabei reicht ein Blick in die Geschichtsbücher, um festzustellen:

Auch unsere Gegenwart galt einmal als Utopie. Auch andere gesellschaftspolitische Konzepte und technologische Erfindungen, z.B. die Sozialversicherungen, die Sharing Economy, das Smartphone und die Solarenergie galten einmal als utopisch – bis sie selbstverständlich wurden.

Die Geschichte zeigt: Ideen können die Welt verändern. Was sind unsere Utopien und Visionen, wie soll die Gesellschaft im Jahr 2050 aussehen? Eine große Debatte unserer Zeit dreht sich dabei um neue Wege zu mehr Chancengerechtigkeit und Teilhabe in einer Gesellschaft, die offen, gleichberechtigt und zugänglich für alle sein soll. Wie schafft man Zugänge ohne Diskriminierung in Bezug auf Gender, sexuelle Orientierung, Herkunft und soziale Milieus? Hat es Vorrang, die Möglichkeit zur Erwerbsarbeit für alle zu schaffen, die dazu in der Lage sind? Oder benötigen wir Leistungen, die unabhängig davon garantiert werden, wie zum Beispiel ein bedingungsloses Grundeinkommen?

Verhandelt wird auch, ob und wie der Zugang zu Institutionen und Infrastruktur gelingt, sei es bei der Kinderbetreuung, der Mobilität, in der Bildung, im Internet oder beim Wahlrecht. Wenn Ideen zu Politik werden, geht es darum zu überlegen, wie sich die Gesellschaft organisiert und wer die Strukturen finanziert. Die Schnittstelle zwischen der Sozial- und der Bildungspolitik intelligent zu kombinieren, das ist eine der großen Herausforderungen.

Eine andere Debatte dreht sich um die ökologischen Fragen, die von den ökonomischen nicht mehr zu trennen sind. Nicht mehr nur diskutiert, sondern bereits getestet wird, inwiefern sich ein neuer Wohlstandsbegriff durchsetzen kann, der Lebensqualität nicht mehr primär über Konsum definiert. Immaterielle Errungenschaften rücken in den Vordergrund, wie die Zufriedenheit mit der eigenen Arbeit und mehr Zeit für Familie und Freundeskreis.

Diskutiert wird dabei auch der Wachstumsbegriff, wie er bisher verstanden wird. Verfechter des „Degrowth“, eines kontrollierten Schrumpfens, konkurrieren mit denen, die ein „Green Growth“, ein ökologisch verträgliches Wachstum, propagieren.

„Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geborgt“ lautet die bekannte Losung, die sich um die kommenden Generationen sorgt: Wie muss eine Gesellschaft aussehen, die einen intakten Planeten hinterlässt? Mit seinem Urteil vom April 2021 hat das Bundesverfassungsgericht den Weg gewiesen und die Politik zu mehr Klimaschutz verpflichtet.

Sollte man nun optimistisch in die Zukunft schauen oder eher pessimistisch? Utopien sind immer umkämpft und werden nie von selbst zur Wirklichkeit. Es braucht etwas, das sich auch „Possibilismus“ nennt: den Glauben daran, dass eine andere Welt möglich ist, wenn man dafür kämpft. Und die Geschichte zeigt: Es lohnt sich oft genug.

Das gilt unserer Meinung nach auch für die soziale Frage in unserem Land. Sie ist eine der wichtigsten und zugleich herausforderndsten Fragen unserer Zeit. An ihrer Beantwortung sind alle Bürgerinnen und Bürger sowie unterschiedliche Akteursgruppen auf allen Ebenen beteiligt – von der (Wahl-)Familie über Vereine, Verbände und Zivilgesellschaft bis hin zu Wirtschaft, Politik und Verwaltung.

Vor allem aber geht die soziale Frage weit über eine materielle Perspektive hinaus. Es geht um gerechte Teilhabe und gleiche Chancen, um Sicherheit im Wandel und um Anerkennung von Lebensentwürfen und Lebensleistungen. Im Sozialen kommen alle Bereiche des Lebens in ihrer Vielfalt zusammen. Das macht es spannend und kompliziert, das macht es persönlich und politisch zugleich.

Oft proklamierte „einfache Lösungen“ in den Debatten um Ausgleich und Anerkennung, um Chancen und Gerechtigkeit werden der komplexen Wirklichkeit nicht gerecht. Hinzu kommt: Die Herausforderungen der Zukunft bringen die Sozialsysteme an ihre Grenzen. Stichworte sind hier: eine sich rasant verändernde Arbeitswelt, Digitalisierung, demographischer Wandel, die Chancen der Migration. Der Erneuerungsbedarf ist hoch, aber einfache Lösungen gibt es nicht.

Eine Herausforderung ist dabei die Bewertung des Sozialen. Es steht außer Zweifel, dass die Entwicklung des Sozialstaates eine Erfolgsgeschichte ist. Der deutsche Sozialstaat ist leistungsfähig und trägt zu einer abgesicherten Gesellschaft bei: Die Ausgleichswirkung ist immens, die Absicherung vielfältiger Lebensrisiken umfassend, absolute Armut in Deutschland die Ausnahme. Und doch bleibt viel zu tun. Es gibt deutliche soziale Ungerechtigkeiten, die sich vor allem in relativer Armut und Kinderarmut äußern. Es gibt strukturell bedingte Lebensrisiken etwa für Alleinerziehende und ungleiche Lebenschancen, die gerade Kinder und Jugendliche in ihren Entwicklungsperspektiven beschränken. Die Ursachen sind struktureller Natur und über Jahrzehnte gewachsen. Sie gefährden die Funktionsweise, die Legitimität und das Vertrauen in den Sozialstaat und in unsere demokratische Grundordnung. Wie aktuell durch eine Umfrage belegt, ist nur eine knappe Mehrheit der Bürger ziemlich zufrieden damit, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert.

Die 2020er-Jahre müssen ein Jahrzehnt der Veränderung und der Modernisierung werden!

Die skizzierten Zukunftsfragen müssen angepackt und gelöst werden. Vor allem muss der ökologische Umbau sozial gerecht, ausgewogen und abgesichert gestaltet werden. Neue Lebenswelten und -entwürfe müssen ebenso wie die Bedürfnisse der alternden Gesellschaft berücksichtigt werden. Nicht auf alle Fragen liegen schon tragfähige Antworten vor, wie z.B. gelingt der Erhalt der Leistungsfähigkeit im Wandel und wie die Erneuerung für den sozialen Zusammenhalt in einer globalisierten Welt und in einem zusammenwachsenden Europa?

Die Anpassungsbedarfe, vor denen der Sozialstaat ebenso wie die Gesellschaft stehen, sind immens. Daraus ergeben sich individuelle, gesellschaftliche, ökonomische und politische Handlungsaufträge. Den Sozialstaat und das Soziale der Gesellschaft zu erhalten und anzupassen wird nur gelingen, wenn Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gemeinsam Lösungen aushandeln, bei denen die Rechte und die Teilhabe aller gewahrt bleiben und die unterschiedlichen Anliegen in einen demokratischen Ausgleich gebracht werden. Mehr Demokratie liefert dazu die passenden Instrumente und den Rahmen, um diese Zukunftsfragen anzugehen. Mit Bürgerräten können sie fair und gemeinschaftlich behandelt werden, in Volksentscheiden treffen alle Abstimmungsberechtigten die Entscheidung über die Weichenstellungen für unsere Gesellschaft. Das heißt aber auch, dass die Instrumente der Bürger-Mitsprache und -Mitentscheidung gestärkt und ausgebaut werden müssen, um gute Antworten auf die Zukunftsfragen zu finden – auch in Sachsen!

Januar 2023
Der Landesvorstand