Verabschieden sich die Grünen von der direkten Demokratie?
In den bisherigen drei Grundsatzprogammen (1980, 1993, 2002) der Grünen gehörte die direkte Demokratie immer zu den Kernforderungen von BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN. Jetzt hat der Bundesvorstand der Umweltpartei einen Grundsatzprogramm-Entwurf vorgelegt, in dem der Ruf nach Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden auf Bundesebene fehlt. Gehen die Grünen nun von Bord?
Seit kurzem liegen zahlreiche Änderungsanträge der Bundesarbeitsgemeinsschaft Demokratie der Grünen und der Grünen Basis vor, mit dem Ziel, die Forderung nach dem bundesweiten Volksentscheid wieder zu einem politischen Ziel der Partei zu machen. Die Debatte ist im vollen Gange. Was sicher ist: Sie wird Ende November auf dem digitalen Parteitag der Grünen entschieden. Bis dahin müssen sich die Grünen einigen, ob sie sich auch in Zukunft basisdemokratisch und bürgernah nennen wollen.
+++AKTUELL+++
Verabschieden sich die Grünen von direkter Demokratie? Gespräch mit Ricarda Lang, stv. Grünen-Vorsitzende, Grünen Mitgründer Lukas Beckmann sowie Claudine Nierth und Ralf-Uwe Beck Vorstandssprecher:innen von Mehr Demokratie e.V. --> Hier ansehen!
Hier ein Gastbeitrag und ein flammendes Plädoyer für die direkte Demokratie der Landesvorstandssprecherin von Mehr Demokratie Berlin/Brandenburg Regine Laroche.
Was man zu der Debatte wissen muss:
- Warum Brexit und AfD als Ausrede nicht taugen, um die direkte Demokratie über Bord zu werfen
- Ein breites Zivilgesellschaftliches Bündnis steht hinter der Forderung nach bundesweiten Volksentscheiden
- Der Änderungsantrag von Lukas Beckmann
- Der Änderungsantrag von der BAG Demokratie
- Direkte Demokratie auf Bundesebene: Wie es gehen kann, sehen Sie hier im Video
Gehen die Grünen von Bord? Vorstandssprecher Ralf-Uwe Beck zur direkten Demokratie und Parteipositionen (gekürzt, eine vollständige Fassung ist im aktuellen MD-Magazin nachzulesen)
„Vielleicht ein Versehen, dachten wir, als Ende Juni der Bundesvorstand von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm veröffentlicht hat. Es fehlte der bundesweite Volksentscheid. Sofort sind bürgerbewegte Grüne in die Spur gegangen. Es war ja nur ein erster Entwurf. Die Grünen werden sich doch nicht von einem ihrer Gründungsimpulse verabschieden. Doch, genau das hat der Bundesvorstand getan. Die Forderung nach Einführung des bundesweiten Volksentscheids ist auch aus dem offiziellen, Ende August vorgestellten Entwurf für das Grundsatzprogramm gelöscht. Was soll das?
Dazu sagt Gerald Häfner, Mitgründer Die Grünen und Mehr Demokratie, langjähriger demokratiepolitischer Sprecher der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag:
"Dies ist kein Punkt wie andere. Es ist ein Scheidepunkt. Denn hier zeigt sich wie im Brennglas das Verhältnis zur Demokratie und den Menschen. Es war immer grünes Anliegen, die Bürger gegenüber den Institutionen zu stärken, Selbstbestimmung und Demokratie zu fördern. Die Grünen waren dabei die Vorreiter! Ein Abschied der Bundespartei von der direkten Demokratie wäre nicht nur ein Verrat an essenziellen grünen Grundprinzipien, es wäre auch eine arrogante Geste der Missachtung gegenüber Wähler:innen wie Bevölkerung, die in großer Mehrheit seit vielen Jahren Volksabstimmungen auf Bundesebene fordern.
Und es wäre gerade die falsche Lehre aus Rechtspopulismus wie Brexit, wo autoritäre Vereinfacher die Bevölkerung hinters Licht führ(t)en, statt in einem fairen und gesetzlichen Verfahren nach gründlicher Diskussion der Inhalte informierte demokratische Entscheidungen zuzulassen."
Bewegt sich die „Bewegungspartei“ weg von der Bevölkerung?
Die Grünen hatten sich bisher als „Bewegungspartei“ verstanden, als Sprachrohr der Zivilgesellschaft. Das gilt dann nicht mehr, wenn diese Zivilgesellschaft nach einem Instrument verlangt, sich durchsetzen zu können? Da soll sie dann von den Grünen und ihrem Mitregieren abhängig sein? Oder will der Bundesvorstand die Grünen für die Union weichspülen und so die Partei auf Regierungskurs bringen? Dabei ist doch die Union gar nicht mehr geschlossen gegen den bundesweiten Volksentscheid.
Die CSU ist 2016 den umgekehrten Weg gegangen und hat per Mitgliederbefragung die Forderung nach direkter Demokratie auf Bundesebene ins Grundsatzprogramm übernommen. Gehen die Grünen den entgegengesetzten Weg? Mindestens offenbart sich hier ein abgehobenes Politikverständnis des Bundesvorstandes. War das nicht die Position von Joschka Fischer, zu meinen, wenn die Grünen regieren … wozu dann noch direkte Demokratie? Erleben wir mit dem Habeck-Baerbock-Duo eine Neuauflage dieser Selbstherrlichkeit?
Wie weiter, was heißt das für die Kernforderung von Mehr Demokratie e.V.? Erst geht die SPD auf Abstand und tilgt die Forderung aus dem 2017er Wahlprogramm, jetzt die Grünen – aufgeschreckt vom Brexit und verunsichert durch die AfD. Damit überlassen sie der AfD das Feld, die mit der direkten Demokratie nicht den Parlamentarismus stärken, sondern ihn angreifen will.
Warum Brexit und AfD als Ausrede nicht taugen, um die direkte Demokratie über Bord zu werfen
Besser wäre, sich ernsthaft mit unserem Demokratiesystem, der Krise der Repräsentation, dem Vertrauensverlust in die demokratischen Institutionen zu befassen und zu diskutieren, wie wir verfasst sein wollen – demokratisch und überhaupt.
Mit der Blockade der direkten Demokratie suggeriert die CDU und mit der Abkehr suggerieren SPD und Grüne, sie müssten ja nur regieren, dann würde alles schon irgendwie gut. Hier aber krähen die Hähne zu laut auf dem Mist, zumal wenn darunter ungelöste Probleme verborgen sind.
Und der Parteitag der Grünen ist Ende November. Dann erst wird das neue Grundsatzprogramm beschlossen. Wir setzen auf die grüne Basis und ihr Gespür dafür, was eine „Bewegungspartei“ wirklich ausmacht.