Redaktion: Wie schätzen Sie die gestern im Bundestag beschlossene Wahlrechtsreform ein?
Hentschel: Das Absurdeste vorweg: Der Beschluss kann sogar dazu führen, dass der neue Bundestag trotz der Reform noch größer wird.
Redaktion: Wie kommen Sie auf diese Aussage?
Hetschel: Das ist ein ganz einfaches Rechenspiel: Holt die CSU alle Direktmandate in Bayern und fällt auf 40 Prozent der Zweitstimmen zurück - was nicht unrealistisch ist - bleibt rein rechnerisch die Zahl der jetzigen 709 Bundestagsageordneten im Parlament gleich oder erhöht sich sogar um ein paar Abgeordnete. Es gibt natürlich auch Szenarien, in denen sich der Bundestag ein wenig verkleinert. Was aber sicher ist: Die Reform wird nicht dazu führen, dass die von der Verfassung vorgesehene Größe des Bundestags eingehalten wird.
Redaktion: Wer sind die größten Gewinner der Wahlrechtsreform, Herr Hentschel?
Hentschel: Durchgesetzt hat sich in erster Linie die CSU. Denn die künftige Verrechnung von Überhangmandaten eines Bundeslandes mit Listenmandaten der gleichen Partei eines anderen Bundeslandes, trifft die CSU nicht. Der Nichtausgleich von drei Überhangmandaten ist ein Geschenk an die Union, die künftig damit drei Mandate mehr hat - die ihr nicht zustehen. Ein absurder Deal!
Redaktion: Und was ist mit der SPD?
Hentschel: Die SPD hat gar nichts durchgesetzt! Ihr Vorschlag war, nicht alle Direktmandate zuzuteilen, wenn die Abstände im Wahlkreis sehr gering sind, also zum Beispiel der Wahlkreisgewinner unter 30% liegt. Das wurde überhaupt nicht berücksichtigt.
Im Gegenteil, die SPD brüstet sich jetzt sogar, die Reduzierung der Wahlkreise verhindert zu haben - an dieser Stelle wäre sogar die CDU bereit gewesen, auf die Vorschläge der Opposition (rot-grün-gelb) einzugehen.
Redaktion: Wer sind die eindeutigen Verlierer der Reform?
Hentschel: Hauptverlierer sind eindeutig diejenigen, die auf der Landesliste auf den hinteren Plätzen gewählt werden. Verlierer sind auch die Bundesländer, in denen keine Partei besonders stark ist. Sie bekommen künftig weniger Abgeordnete.
Redaktion: Die Koalition will noch in dieser Legislatur festschreiben, dass es von der Bundestagswahl 2025 an nur noch 280 Wahlkreise geben soll. Was halten Sie davon?
Hentschel: Das Versprechen, 2025 dann etwas mehr zu ändern, ist wertlos. Zumal der Vorschlag, die Zahl der Wahlkreise um 19 zu reduzieren, auch nicht gerade revolutionär ist. Die Opposition fordert dagegen eine Reduzierung um 49 Mandate - aber selbst das würde Überhangmandate nicht gänzlich verhindern!
Redaktion: Welches Fazit ziehen Sie also aus der Reform?
Hentschel: Beiden Parteien ging es allein um die Befriedigung ihrer direkt gewählten Abgeordneten, die ihren Wahlkreis wieder gewinnen wollen. Wir von Mehr Demokratie haben schon lange einen Vorschlag eingebracht, wie es zu einer echten Verkleinerung des Bundestages kommen kann. Außerdem ist nicht nur das Ergebnis sehr enttäuschend, sondern auch der Weg zu diesem. Eine Wahlrechtsfrage geht das gesamte Parlament an. Hier muss nach unserem Demokratieverständnis auch die Opposition mit einbezogen werden und letztendlich der Koalitionszwang aufgehoben werden. Die Regierung hat die Wahlrechtsfrage aber kurzerhand zur Koalitionsfrage gemacht. So sieht keine nachhaltige Politik aus! Ein anderer Weg wäre sicherlich, einen losbasierten Bürgerrat einen Vorschlag über das Wahlrecht ausarbeiten zu lassen. Vorbilder sind hier British Columbia und Ontario, wo ein losbasiertes Gremium dem Parlament einen Vorschlag zum Wahlrecht übergeben hat.
Redaktion: Wir danken für das Gespräch!
Positionspapier zur Reform des Bundeswahlrechts von Mehr Demokratie e.V. und Minimal-Variante einer Wahlrechts-Reform haben wir für Sie hier verlinkt.