Wir hätten schon längst die Anstrengungen verdreifachen müssen, um die Pariser Klimaziele noch zu erreichen. Viel Zeit ist nicht mehr, wenn es nicht auf eine 3 Grad-Erwärmung hinauslaufen soll. Verpassen wir die Gelegenheit zu handeln, steht spätestens den Jüngsten unter uns ein Alltag ins Haus, dessen Dramatik sich nicht einmal erahnen lässt. Das wiederum treibt die Jungen selbst auf die Straße. Was zur weltweiten Bewegung Fridays for Future geworden ist, hat Greta Thunberg vor dem schwedischen Parlamentsgebäude begonnen.
Nicht vor einer Konzernzentrale, nicht vor einem Kohletagebau, nicht vor einem Flughafen.
Sie verlangt von der Politik, die Hausaufgaben zu machen, zu denen sie sich selbst verpflichtet hat – mit den Pariser Klimazielen, mit der Agenda 2030, mit nationalen und regionalen Nachhaltigkeitsstrategien. Mehr als demonstrieren bleibt denen allerdings nicht, die das Politikversagen später werden ausbaden müssen. Da kommt mit Bürgerräten, bei denen ausgeloste Bürgerinnen und Bürger repräsentativ für die ganze Bevölkerung Fragestellungen bearbeiten, Hoffnung auf. In Großbritannien, in Frankreich, bald in Schottland, der Schweiz und Spanien. So finden sich unter den Forderungen von Fridays for Future und Extinction Rebellion auch Bürgerräte zum Klimaschutz.
Was aber, wenn die Empfehlungen eines Bürgerrates nicht umgesetzt werden? Macron hat für Frankreich eine Volksabstimmung über die 149 Forderungen des Klima-Bürgerrates angekündigt. Ein Glücksfall. Was aber, wenn Präsident oder Parlament hierzu nicht bereit sind? Sie müssen ja nicht, sie müssen gar nichts. Sie sollten müssen, dann hätten sie längst. Genau das aber lässt sich eben mit Instrumenten der Bürgerbeteiligung nicht erreichen, auch nicht mit losbasierten Bürgerräten. Hinter jeder Tür eines Beteiligungsraumes wartet die Genugtuung oder lauert der Anschiss: Es könnte sein, dass die Einwände und Ideen der Bürgerinnen und Bürger tatsächlich einfließen in die Abwägungen.
Wahrscheinlicher ist, das jedenfalls ist die Erfahrung vieler Bürger, die sich aufmachen vom Sofa und sich einbringen, dass sie einfach ignoriert werden. Wie bei einem gemauerten Gewölbe kommt es auch bei der Bürgerbeteiligung auf den konisch zugehauenen Schlussstein an. Er erst legt Spannung auf das gesamte Gewölbe, so dass es nicht zusammenbricht. Die einzelnen Steine sind die Instrumente der Bürgerbeteiligung, der Schlussstein ist die direkte Demokratie.
Nur mit ihr können wir uns vom Regierungshandeln unabhängig machen und beanspruchen, selbst über eine Sache abzustimmen. Wer auf kommunaler Ebene ein Bürgerbegehren startet, oder auf Landesebene ein Volksbegehren, will bewegen, wozu sich die politische Vertretung nicht bewegen lässt. Und hat – sind die Hürden nicht zu hoch – eine echte Chance, sich durchzusetzen, ist jedenfalls dafür nicht vom Wohlwollen der Politik abhängig.
Diese unscheinbare Ergänzung unserer repräsentativen Demokratie kann große Wirkung haben.
Die direkte Demokratie wirkt wie eine Drohgebärde hinter der politischen Bühne. Dafür muss sie nicht einmal genutzt werden, aber sie könnte. Das allein kann der Politik Beine machen. Wird sie genutzt, bindet sie wie ein Gummiband die Interessen der Bürgerinnen und Bürger zurück an die Politik. Werden also die per Bürgerbeteiligung ermittelten Sorgen und Ideen der Menschen zwar zur Kenntnis, aber nicht ernst genommen, kann ein Bürger- oder Volksbegehren das Thema wieder auf die politische Tagesordnung holen und mit der Aussicht auf eine Volksabstimmung auch für Ernsthaftigkeit bei der Behandlung sorgen.
Wer heute also nach mehr Bürgerbeteiligung schreit, sollte morgen auch der direkten Demokratie das Lied singen. Die direkte Demokratie macht dabei der repräsentativen Demokratie nicht die Bühne streitig, sorgt aber perspektivisch dafür, dass die repräsentative Demokratie hält, was uns mit ihr versprochen ist: das Ringen um die beste Lösung, eine sach- und weniger machtorientierte Politik. Mit anderen Worten: Die direkte Demokratie macht die repräsentative Demokratie repräsentativer.
Die direktdemokratischen Verfahren sind in den Ländern sehr unterschiedlich gestaltet. Die Grundstruktur – jedenfalls für die direkte Demokratie auf Landesebene – ist jedoch dieselbe. Es geht in drei Stufen bis zum Volksentscheid. Stufe 1: Antrag auf Zulassung eines Volksbegehrens. Hier werden vergleichsweise wenige Unterschriften verlangt. Ist der Antrag eingereicht, können Regierung oder Parlament vom Landesverfassungsgericht überprüfen lassen, ob der Gesetzentwurf der Initiative nicht etwa Grund- oder Minderheitenrechte verletzt. Wird das Begehren zugelassen, geht es in die 2. Stufe: das Volksbegehren – die große Unterschriftensammlung. Notwendig sind je nach Bundesland Unterschriften von knapp 4 bis 13 Prozent der Stimmberechtigten. Hier muss die Initiative nachweisen, dass die Frage so relevant ist, dass sie der ganzen Bevölkerung zur Entscheidung vorgelegt werden kann. Dann folgt als Stufe 3 die Abstimmung. Ein bürgerfreundliches Regelwerk sieht lange Fristen vor, Unterschriftenhürden, die auch übersprungen werden können und verstellt nicht den Weg für bestimmte Themen oder Vorhaben, die Kosten verursachen.
In den vergangenen Jahrzehnten haben sich Standards entwickelt, die auf eine engere Verzahnung der direktdemokratischen mit den parlamentarischen Verfahren setzen. Selbstverständlich müssen erfolgreiche Volksbegehren vom Parlament behandelt und können übernommen werden. Schleswig-Holstein, Hamburg und Brandenburg sind die Länder, in denen die meisten Verfahren – 30 bis 40 Prozent – ohne Volksentscheid erfolgreich waren, weil die Anliegen vom Parlament ganz oder teilweise übernommen wurden.
Eine solche Quote kann keines der unverbindlichen Beteiligungsinstrumente einfahren. Kommt es zum Volksentscheid, kann auch ein Alternativentwurf des Parlamentes mit zur Abstimmung gestellt werden. Das bricht jede Basta-Politik auf und intensiviert die inhaltliche Auseinandersetzung. Damit alle informiert entscheiden, wird zunehmend auch gesetzlich festgeschrieben, allen Stimmberechtigten mit der Abstimmungsbenachrichtigung eine ausgewogene Pro- und Contra-Argumentation zukommen zu lassen.
Dort, wo wir moderne Regelwerke vorfinden, entwickelt sich auch die Praxis.
Die direkte Demokratie wird zum Seismographen, der dringenden Handlungsbedarf einschärft. So gab es auf kommunaler Ebene von 2013 bis 2016 lediglich ein Bürgerbegehren zum Radverkehr, 2019 waren es 13. Auch auf Landesebene machen die ökologischen Themen einen immer größeren Anteil an den Volksinitiativen und -begehren aus, 2019 mehr als ein Drittel, wohingegen einige Jahre zuvor der Anteil bei einem Zehntel lag. Haben also in den Bundesländern die Bürgerinnen und Bürgern zwischen den Wahlen ein verbindliches Instrument zur Hand, mit dem sie punktuell die in Wahlen an Mandatsträger delegierte Macht für eine Sachfrage wieder zurückholen können, fehlt dieses Demokratieprinzip auf Bundesebene völlig.
Deutschland ist das einzige Land in Europa, das seit Ende des Zweiten Weltkrieges noch nie eine Abstimmung über ein bundespolitisches Thema erlebt hat. Es gab bisher 14 Versuche im Bundestag, den bundesweiten Volksentscheid einzuführen – von den Grünen, der SPD, der Linken. Gescheitert ist dies bisher an der Unionsfraktion. Nun allerdings bewegt sich die CSU. Bei dem ersten Mitgliederentscheid in der Parteigeschichte haben sich 68 Prozent der CSU-Mitglieder für die direkte Demokratie auf Bundesebene ausgesprochen. So findet sich das Stichwort, versehen mit einem Prüfauftrag, im Koalitionsvertrag der Bundesregierung.
Die allerdings wird sich die größte Demokratiebaustelle Deutschlands in dieser Legislatur wohl kaum noch vornehmen. Die Diskussion, die sich über Jahre vom Niederen zum Höheren entwickelt hatte, hat mit dem Brexit einen Dämpfer erlitten. Ganz zu Unrecht, denn die Befragung in Großbritannien war „von oben“, von Cameron angesetzt, der sich damit den Machterhalt sichern wollte. Eine solche direkte Demokratie gibt es in Deutschland nicht und ist auch nicht gewollt.
Die direktdemokratischen Instrumente gehören in die Hand der Bürgerinnen und Bürger.
Hätte die Klimaschutzbewegung die Möglichkeit, mit einem Volksbegehren für einen wirksameren Klimaschutz, einen schnelleren Kohleausstieg, ein Tempolimit auf Autobahnen … einzutreten, würde aus dem „wir müssten, wir sollten, wir hätten schon längst …“ eher ein „wir packen es jetzt selbst an“ werden. Es ist an der Zeit: Volksentscheid bundesweit!