Demokratiepolitische Einschätzung zum Koalitionsvertrag von CDU und SPD

Die Landesverbände von CDU und SPD haben am 4.12. des vergangenen Jahres ihren Koalitionsvertrag vorgestellt, am 18.12. wurde Michael Kretschmer als Ministerpräsident wiedergewählt. Mehr Demokratie hat die Vorhaben der neuen Landesregierung zur Weiterentwicklung der Demokratie analysiert und bewertet.

Der Landtag des Freistaats Sachsen betritt Neuland. Erstmals in der Geschichte des Bundeslands hat sich eine Minderheitsregierung gebildet, die mit einem neuen Konsultationsverfahren mit allen Fraktionen Gesetzesvorhaben früh besprechen und von Fall zu Fall Mehrheiten organisieren will. Gemeinsame Gesetze mit der AfD schließt sie aus. Dass nun Gesetze früher und umfänglicher ausgehandelt werden müssen, ist eine Herausforderung insbesondere für die Landesregierung aus CDU und SPD und bietet gleichzeitig die Chance zu mehr Miteinander zwischen den Fraktionen, zu mehr gelebter Demokratie in Sachfragen. Mehr Demokratie hat einen Blick auf die im Koalitionsvertrag festgehaltenen Vorhaben geworfen und gibt eine erste Einschätzung.

 

Direkte Demokratie

Wir möchten das Gesetz über Volksantrag, Volksbegehren und Volksentscheid prüfen und weiterentwickeln. Dabei sollen Verfahrensvereinfachungen für die Antragstellenden, wie beispielsweise ein Recht auf Beratung, im Vordergrund stehen.“ (S. 93)

In der vergangenen Wahlperiode scheiterte eine Verfassungsreform auf der Zielgeraden am Widerstand einzelner CDU-Abgeordneter – und mit ihr auch die Verbesserung der direkten Demokratie auf Landesebene durch niedrigere Sammelhürden.

Vermutlich verzichtet die Koalition wegen der neuen, instabileren Mehrheitsverhältnisse auf einen zweiten Anlauf. Dass stattdessen die Reform des Ausführungsgesetzes, also des Gesetzes über Volksantrag, Volksbegehren und Volksentscheid angegangen werden soll, ist eine zu begrüßende Alternative. Auch wenn Volksbegehren weiterhin wegen der bundesweit höchsten Unterschriftenhürde nur geringe Erfolgsaussichten haben, kann die Qualität der Verfahren z. B. durch ein besseres Beratungsrecht erhöht werden. Auch eine Überarbeitung der Unterschriftenprüfung durch die Kommunen wäre eine Verbesserung im Sinne der Initiativen.

 

Die Nutzung der verschiedenen Instrumente der direkten Demokratie wollen wir erleichtern, etwa indem wir die digitale Unterschrift für Bürgerbegehren und die Einführung weiterer Formate prüfen.“ (S. 93)

2022 änderte die damalige „Kenia-Koalition“ die Gemeindeordnung und senkte die Hürden für Bürgerbegehren. Für ein erfolgreiches Bürgerbegehren müssen nunmehr 5 Prozent der Stimmberechtigten in einer Kommune unterschreiben. Zuvor waren es 10 Prozent. Die Reform wirkt sich positiv auf die Bürger-Mitsprache aus. 2024 gab es so viele direktdemokratische Verfahren wie seit vielen Jahren nicht. Gleichzeitig rächt sich, dass mit der Reform der Gemeindeordnung nicht auch qualitative Verfahrensbestimmungen verbessert wurden. Mehr als 60 Prozent aller Bürgerbegehren waren in den vergangenen beiden Jahren unzulässig. Das ist ein sehr hoher Wert, der in der Praxis Frust auf allen Seiten verursacht.

Eine Erleichterung der direkten Demokratie zum Beispiel durch eine Vorprüfung von Bürgerbegehren oder die Abschaffung des Kostendeckungsvorschlags wären hier effektive Maßnahmen. Eine digitale Unterzeichnung kann insbesondere in größeren Städten die Sammlung erleichtern und Behörden bei der Unterschriftenprüfung entlasten.

 

Wahlrecht

Keine Erwähnung.

Mehr Demokratie forderte als Teil des Bündnisses 16stimmt vor der Landtagswahl die Einführung des Wahlalters ab 16 Jahren auf kommunaler und auf Landesebene. Zudem reichte der Landesverband am 30. April 2024 eine von 9.292 Personen unterzeichnete Petition beim Landtag ein, die unter anderem die Einführung (integrierter) Stichwahlen bei Bürgermeister- und Landratswahlen fordert. Keine der Forderungen fand Eingang in den Koalitionsvertrag und auch darüber hinaus gibt es keine Vorhaben zur Modernisierung des Wahlrechts. Das ist schade, denn das Wahlrecht ist das zentrale Instrument zur Mitbestimmung in der parlamentarischen Demokratie und ein modernes Wahlrecht bietet die Chance, Mitbestimmung zu verbessern und Wahlen attraktiver zu machen. Diese Chance wird in den kommenden Jahren wohl nicht genutzt.

 

Transparenz

Das Sächsische Transparenzgesetz hat nicht die erwartete Transparenz für Bürgerinnen und Bürger geschaffen, sondern für ein Mehr an unnötiger Bürokratie gesorgt. Hier wollen wir umsteuern.“ (S. 11)

Das „Umsteuern“ beim Transparenzgesetz ist ein deutlich zu kritisierender Punkt im Koalitionsvertrag. Transparentes Handeln von Verwaltungen und Politik bildet eine Grundlage für mehr Vertrauen in die Demokratie. Da das Vertrauen jedoch kontinuierlich schwindet, wäre vielmehr ein Ausbau von Transparenz und Informationsfreiheit angebracht.

Das 2022 beschlossene Transparenzgesetz ist nicht vollumfänglich umgesetzt und wenig bekannt. Insbesondere die Ausnahme der Kommunen von der Transparenzpflicht fällt hier ins Gewicht. Dem vermeintlichen Mehr an Bürokratie ist entgegenzuhalten, dass ein gut umgesetztes Transparenzgesetz und eine gut organisierte digitale Aktenführung zwei Seiten einer Medaille sind. Insofern können beide Umstellungen genutzt werden, um sich zu verstärken.

Irritierend ist zudem, dass es mit dieser Festlegung im Koalitionsvertrag bereits eine Vorwegnahme der gesetzlich vorgesehenen Evaluation gibt.

 

Bürgerbeteiligung

Bürgerschaftliches Engagement hält die Gesellschaft in Sachsens Städten und Gemeinden zusammen. Daher wollen wir das Förderprogramm Bürgerbeteiligung weiterführen. Zudem intensivieren wir die Vernetzung und den Erfahrungsaustausch zwischen Kommunen, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Land. Das digitale Bürgerbeteiligungsportal entwickeln wir weiter, wobei wir einen besonderen Fokus auf die Kinder- und Jugendbeteiligung legen.“ (S. 93)

Das Sächsische Staatsministerium für die Justiz und die Demokratie, Europa und Gleichstellung (SMJusDEG) leistete in den vergangenen Jahren hervorragende Arbeit beim Ausbau der strukturellen Bürgerbeteiligung in Sachsens Kommunen. Wichtige Bausteine waren dabei die Einführung eines Förderprogramms für Kommunen und Zivilgesellschaft und der Aufbau des Erfahrungs- und Beratungsnetzwerks Bürgerbeteiligung Sachsen. Das Förderprogramm und die Vernetzung fortzuführen und zu vertiefen, ist schlüssig und eine wirksame demokratiepolitische Maßnahme.

 

Wir werden dem Landtag eine Modernisierung des Gesetzes über den Petitionsausschuss unter Berücksichtigung aktueller Herausforderungen vorschlagen.“ (S. 47)

Eine Modernisierung des sächsischen Petitionsrechts ist nötig. Ein gutes Petitionsrecht stärkt den Dialog zwischen Landtag und Bevölkerung, insbesondere durch die Einführung öffentlicher Petitionen, die den Petentinnen und Petenten ein Anhörungsrecht im Landtag ermöglichen.

Leider ist die vorgelegte Formulierung unkonkret und bleibt somit hinter der Ankündigung aus dem vergangenen Koalitionsvertrag zurück. Die Modernisierung des Petitionsrechts ist auch eine Forderung der Petition, die der Landesverband Sachsen von Mehr Demokratie im April 2024 beim Landtag eingereicht hat. Der Sächsische Landtag kann sich an dem bestehenden Petitionsgesetz in Thüringen oder dem Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke aus der vergangenen Wahlperiode (Drs. 7/13745) orientieren.

 

Die Einrichtung von Beiräten und anderen Beteiligungsformaten sowie die Ausgestaltungsmöglichkeiten von Fraktionsrechtsstellung und -finanzierung sind auf kommunaler Ebene zu entscheiden.“ (S. 48)

Im Sinne der Subsidiarität sollten möglichst viele Kompetenzen in den Händen der Kommunen verbleiben. Gerade in kleineren Kommunen ist eine Handlungsfreiheit auch bei der Einrichtung von Beiräten sinnvoll. Gleichwohl wäre es besser, eine Vorgabe zu Jugendbeteiligung und zur Einrichtung von Beiräten in größeren Kommunen in der Gemeindeordnung festzuhalten. Wichtig wäre eine Unterstützung von Kommunen durch das Land, zum Beispiel über die erwähnten Förderprogramme zur strukturellen Beteiligung.

Die Formulierung im Koalitionsvertrag ist zudem eine Bestätigung des status quo und keine wirkliche Neuerung.

 

Leider ist im Koalitionsvertrag keine Formulierung zum Einwohnerantrag und dem Antrag auf Einwohnerversammlung enthalten. Beide Instrumente bieten der Einwohnerschaft eine niedrigschwellige Möglichkeit, der Gemeindevertretung eine Sachfrage zur Befassung vorzulegen. Damit würde ebenso der Dialog zwischen Politik und Einwohnerschaft gestärkt. Allerdings sind die Hürden so hoch, dass eine Anwendung insbesondere des Einwohnerantrags praktisch nicht in Frage kommt. Für einen erfolgreichen Einwohnerantrag müssen diesen 5 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner einer Kommune unterzeichnen. Initiativen benötigen also mehr Unterschriften als bei einem weitreichenderen Bürgerbegehren. Einen Gesetzentwurf zur Verringerung der Hürden beim Einwohnerantrag hat Mehr Demokratie bereits vorgelegt.

 

Konsultationsmechanismus

Eine Minderheitsregierung aus CDU und SPD ist zur Umsetzung ihrer geplanten politischen Vorhaben auf weitere Stimmen im Parlament angewiesen. Um erfolgreich regieren zu können, müssen verlässliche Mehrheiten für die jeweiligen Vorhaben gefunden werden. Dazu ist es notwendig, frühzeitig und fortwährend über die wesentlichen Vorhaben der Staatsregierung zu informieren und dem Sächsischen Landtag Gelegenheit zu geben, seine Positionen zu artikulieren. Deshalb führt die Staatsregierung einen festen Konsultationsmechanismus ein, damit diese Auffassungen in den Gesetzgebungsprozess einfließen können. Unser gemeinsames Ziel ist es, mit diesem Konsultationsmechanismus die Positionen der Landtagsfraktionen, Gruppen und Fraktionslosen und damit die Interessen aller Wählerinnen und Wähler bereits vor der förmlichen Initiative der Staatsregierung zu dokumentieren und die Mehrheitsfindung im parlamentarischen Verfahren zu erleichtern.“ (S. 107)

Mit dem Konsultationsmechanismus versucht die Landesregierung aus einer Not eine Tugend zu machen. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, die parteiübergreifenden Suche nach Sachlösungen in den Mittelpunkt zu stellen. Dabei sollen Pakete bereits vor der Behandlung im Landtag geschnürt werden.

So interessant das Verfahren ist: Die Gesetzgebung darf nicht schon vor der parlamentarischen Behandlung abgeschlossen sein und damit zum Teil der öffentlichen Debatte entzogen werden. Die Fraktionen sollten den Konsultationsmechanismus nutzen und die Bürgerinnen und Bürger z. B. über partizipative Gesetzgebung stärker einbinden. Positive Erfahrungen damit gibt es bereits in Baden-Württemberg und Thüringen. Der Thüringer Landtag hat für die Bürgerbeteiligung im Gesetzgebungsverfahren ein eigenes Online-Portal eingerichtet. Dort können die Bürgerinnen und Bürger Stellungnahmen zu Gesetzentwürfen abgeben.

Wie gut der Konsultationsmechanismus gelingt, ist noch nicht absehbar. Der Landtag wird, wie der Thüringer Landtag seit 2020, gewissermaßen ein Reallabor der Demokratie. Die Zivilgesellschaft sollte diesen Prozess kritisch und konstruktiv begleiten.

 

Fazit

Die demokratiepolitischen Vorhaben der CDU-SPD-Minderheitsregierungen bauen auf Bewährtem aus der vergangenen Wahlperiode auf, gehen aber nicht wesentlich darüber hinaus. Die dosierte Weiterentwicklung der Demokratie kann auch mit der unsicheren Mehrheitsfindung im Landtag verbunden sein. Bereits bekannte Vorhaben wie die Modernisierung des Petitionsrechts können und sollten zügig umgesetzt werden. Die Weiterentwicklung des Gesetzes über Volksantrag, Volksbegehren und Volksentscheid wäre ein Zeichen, dass es beide Parteien auch nach der gescheiterten Verfassungsreform ernst meinen mit einem Mehr an direkter Demokratie.

Einen Rückbau des Transparenzgesetzes darf es gerade wegen des sinkenden Demokratie-Vertrauens nicht geben.

Wichtige Themen wie die Verbesserung des Einwohnerantrags oder die partizipative Gesetzgebung sind zwar nicht im Vertrag enthalten, sollten aber dennoch auf die Agenda genommen werden, um Beteiligung und Dialog zu stärken.

 

Der Koalitionsvertrag kann hier heruntergeladen werden.